Interview mit Preisträgerinnen des Geschichtswettbewerbs

Lang ist es her, dass ich als Tutorin Schülerinnen und Schüler im Geschichtswettbewerb begleitet habe. Als ich im Schuljahr 2019/2020 verfolgen konnte, wie erfolgreich sich Janna und Marit mit ihren Forschungsarbeiten auf verschiedenen Ebenen im ausgeschriebenen Wettbewerb "So geht’s nicht weiter. Krise, Umbruch, Aufbruch" zeigten, war mir klar:

Diese Forschungsarbeiten will ich genauer unter die Lupe nehmen, vor allem aber: Diese zwei Persönlichkeiten will ich selbst sprechen lassen.
Mit meiner Idee ging ich auf Marit und Janna zu, und beide signalisierten ein offenes Interesse, obwohl sie ihr Abitur bereits hinter sich hatten und konkrete Zukunftspläne Vorbereitungskraft forderten. Dafür danke ich Ihnen, Janna, und Ihnen, Marit. Die Interviews wurden einzeln geführt.

Und wer nach dem Lesen der Interviews Lust bekommt, am diesjährigen Geschichtswettbewerb mitzumachen, kann sich gerne bei Frau Spinner und Herrn Sethaler melden. Das diesjährige Oberthema heißt: „Sport...“.

Interview mit Janna

Janna, Sie haben sich in der elften Klasse auf den Geschichtswettbewerb eingelassen. Können Sie -im Rückblick- sagen, worin genau der fachliche und persönliche Zugewinn liegt, wenn man am Geschichtswettbewerb teilnimmt?

Natürlich in dem Wissen, das man sich aneignen muss, um das eigene Thema historisch sinnvoll in Zusammenhang zu setzen. Des Weiteren lernt man wissenschaftlich zu arbeiten und wie wichtig gutes Zeitmanagement ist. Für mich lag der persönliche Zugewinn in dem Austausch, den ich mit den unterschiedlichsten Menschen in Zusammenhang mit meiner Arbeit hatte. Außerdem habe ich besonders meine Großeltern, aber auch meine Mutter und meinen Onkel tiefer kennengelernt und bin froh ihre Geschichte festgehalten zu haben.

Welche Tipps können Sie Schülerinnen und Schülern geben, damit anfangs kein Gefühl der Überforderung entsteht?

Ihr solltet euch möglichst schnell für ein Thema entscheiden und dann ist es wichtig, den ersten Schritt zu gehen: Werdet euch über den Umfang des Themas bewusst, indem ihr mit jemandem darüber sprecht oder grobe Basisinformationen sammelt… was ist spannend? Dann formuliert eine Forschungsfrage und Gliederung.

Phasenweise lassen sich Verzweiflung und Überforderung nicht vermeiden, deshalb solltet ihr eine persönliche Motivation für das Thema haben.

Nun werde ich Fragen an Ihre Forschungsarbeit selbst stellen:

Sie schreiben in der Einleitung, dass Sie -nach der Themennennung des Geschichtswettbewerbs- sofort wussten: „[M]eine Familiengeschichte [passt] perfekt in das Format.“ Warum war das so?

Meine Familie ist 1981 aus der CSSR geflüchtet. Und eine gelungene Flucht zeichnet sich genau durch diese drei Elemente aus: Krise- was lässt einen Freunde, Familie und grundlegende finanzielle Sicherheit für etwas abstraktes wie Freiheit und Menschenwürde zurücklassen?; Umbruch- eine riskante Flucht, die in den Händen der Kommunisten oder vorübergehender Obdachlosigkeit enden könnte…; Aufbruch- mit nichts außer einem PKW voll Tennisschläger, Bettzeug, Skiausrüstung und Kleidung galt es, in Deutschland ein neues Leben zu beginnen: Die Sprache lernen, eine Arbeit finden und sich mit der Hilfe anderer schließlich zu emanzipieren.

Sie haben die Motive, Vorbereitung und Durchführung einer lebensbedrohlichen Flucht während des Kalten Krieges untersucht. Was hat Sie am meisten beeindruckt?

Es sind Details, wie bspw., dass sich die tschechoslowakische Bevölkerung beim Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes zur Beendigung des Prager Frühlings 1968 mit den Soldaten versuchte zu unterhalten, um sie von ihren friedlichen Motiven zu überzeugen. Die meisten Soldaten hatten nämlich mit bewaffnetem Widerstand gerechnet, weil Ihnen ein solches Szenario von den Vorgesetzten prophezeit worden war.

Vor allem hat mich jedoch mein Großvater Miroslav mit seinem kalkuliertem Nicht-dem-System-nachgeben beeindruckt. Er hat wiederholt die kommunistische Parteimitgliedschaft abgelehnt, obwohl das gefährlich war und ihn am beruflichen Aufstieg als Arzt im Krankenhaus hinderte. Und schließlich muss man meine Großeltern für ihre mutige und risikobehaftete Entscheidung zur Flucht einfach bewundern.

Sie haben auch das Ankommen in einem fremden Land, mit einer fremden Sprache, einem fremden, politischen und ökonomischen System beforscht. Welche Erfahrungen machten Ihre Großeltern mit ihren Kindern nach ihrer Ankunft in der BRD?

Eine Erfahrung, die Miro die Tränen in die Augen trieb, war das einander „Schönes Wochenende“ – Wünschen bei der Arbeit im Krankenhaus. Er fand es unglaublich, dass die Menschen diese Worte tatsächlich Ernst meinten, da er es aus dem misstrauischen und toxischen Arbeitsumfeld im Sozialismus nicht gewohnt war. Seine Deutschkenntnisse erleichterten ihm den beruflichen Einstieg spürbar und er konnte sich schließlich selbstständig machen. Er beschreibt den Wandel, als wäre er „ins Paradies“ gekommen. Während sich die Kinder in der Schule und im Sportverein sehr schnell zurechtfanden, hatte meine Großmutter Hana große Probleme mit der Sprache und traute sich einen Job als Realschullehrerin daher nicht zu. Ihr Selbstbewusstsein hat darunter gelitten.

Erleben Erwachsene Flucht und Migration anders als Kinder?

Definitiv. Erwachsene treffen die Entscheidung zur Flucht und stehen somit in der Verantwortung.

„Wie wäre es, wenn wir nie mehr zurückkehren würden?“, fragte Hana die Kinder auf der Autobahn in Deutschland. Vorher waren sie zur Sicherheit nicht eingeweiht worden.

Während Erwachsene auch am Ziel noch alles vergleichen und hinterfragen, akzeptieren Kinder schneller die Unumkehrbarkeit der Dinge. Sie sind meist anpassungsfähiger und lernen die Sprache und das neue Leben auf natürlichem Weg in der Schule, durch Freunde und im Alltag. Erwachsene müssen mehr Energie von Innen aufwenden.

Zuletzt noch eine Frage an Sie als Forscherin: Fiel es Ihnen schwer, Ihre Großeltern, Ihre Mutter und Ihren Onkel als Forschungsobjekte zu begreifen?

Ich möchte es anders formulieren: Durch meine Forschung wurde es mir möglich, sie als Menschen besser zu begreifen.

Im dritten Teil meines Interviews befrage ich Sie zu Ihren Erfahrungen mit dem Wettbewerb selbst: Sie haben mit Ihrer Forschungsarbeit einen Landespreis und, was für eine grandiose Auszeichnung, Janna, einen Bundespreis gewonnen. Präziser ausgedrückt, wurden Ihnen beide Auszeichnungen von einer Fachjury zuerkannt.

Was bedeuten Ihnen diese Auszeichnungen persönlich?

Es war natürlich schön, eine solche Anerkennung für die Zeit und mein Schreiben zu bekommen. Ich freue mich, dass dadurch mehr Menschen meine Arbeit lesen, mich darauf ansprechen und mir von sich erzählen.

Erhalten Sie durch die Auszeichnungen einen Zugang zu Netzwerken oder sonstige Vorteile, die Sie ohne den Geschichtswettbewerb im Rahmen der Schule nicht hätten erwerben können?

Ja, eine kurze Version meiner Arbeit wird  im Einhorn Jahrbuch 2020 erscheinen. Zugang habe ich zum Gmünder Geschichtsverein und theoretisch zu einem internationalen Netzwerk bekommen. Zudem konnte ich durch den Bundespreis an einem Auswahlseminar der Studienstiftung des Deutschen Volkes in Hamburg im Januar teilnehmen. Ich lernte in den Diskussionen und Interviews enorm viel und ziehe auch aus der Absage Motivation. Wie sich später in unserer WhatsApp-Gruppe nämlich herausstellte, erhielten 50% der männlichen Bewerber und nur 12,5% der weiblichen Bewerberinnen die Förderung…

Können Sie die Auszeichnungen in Ihrem weiteren Lebenslauf gewinnbringend einsetzen?

Das hoffe ich.

Am HBG hätten Sie sicher auch noch die Gelegenheit gehabt, im Festsaal der Alten PH vor der Schulgemeinschaft Ihre Arbeit vorzustellen. Wir hätten Sie gefeiert. Leider hat „Corona“ diesen Akt verunmöglicht. Nicht nur ich hoffe, dass Sie dieses Interview auf der Homepage -und später im digitalen Archiv- als Akt der Würdigung einer herausragenden Forschungsarbeit durch die Schulgemeinschaft sehen können: auch in dieser Ausnahmezeit. Janna, Sie haben historische Spuren gelegt und ich wünsche Ihnen im Namen der Schulgemeinschaft von Herzen alles Gute!

Wenn Sie wollen, können Sie hier ein Schlusswort sprechen:

Meine Familie floh hierher für Demokratie, Freiheit und Menschenrechte. Jede*r einzelne von uns sollte dafür einstehen, sodass Gesellschaft und Politik im Moment und in Zukunft diese Werte weiterentwickeln. Mainstream ≠ Brainstream.

Interview mit Marit Schillinger

Marit, Sie haben sich in der elften Klasse auf den Geschichtswettbewerb eingelassen. Was genau hat Sie dazu bewegt?

Der Geschichtswettbewerb wurde in meinem Jahrgang als eine von insgesamt vier Seminarkursoptionen in der Oberstufe angeboten. Mir gefiel der Gedanke, für einen längeren Zeitraum intensiv in die Vergangenheit einzutauchen und gleichzeitig an einem Wettbewerb teilzunehmen, was bei allen anderen Seminarkursen nicht der Fall war. Hinzu kommt, dass ich den Wettbewerb als eine Herausforderung wahrgenommen habe, die mich weiterbringen würde. Dabei ging es mir nicht darum, unbedingt etwas zu gewinnen, obwohl es sicherlich ein kleiner Ansporn war. Ich wollte einfach die Erfahrung machen, eine längere Arbeit zu schreiben und zum ersten Mal ein bisschen zu forschen, denn das Spurensuchen hat mir schon immer großen Spaß gemacht.

Arbeitet man im Rahmen des Wettbewerbs anders als im Fach Geschichte und erlebt „Geschichte“ auch anders?

Ja, definitiv. Das liegt vor allem daran, dass man im Fach Geschichte im schulischen Rahmen eine große Bandbreite von Themen in nur sehr kurzer Zeit bearbeiten muss. So bleibt kaum Zeit, Geschichte auch abseits der „großen Ereignisse“ zu erleben und den Fokus auf Einzel- oder Familienschicksale oder bestimmte Orte zu legen. Der Wettbewerb hingegen verlangt genau das. Infolgedessen ist auch die Arbeitsweise unterschiedlich. Im Geschichtsunterricht geht es meistens darum, die größeren Zusammenhänge zu verstehen, mit denen oft auch unsere heutige Realität erklärt werden kann. Das notwendige Wissen dazu steht im Normalfall im Geschichtsbuch, man muss es sich nur aneignen. Natürlich ist es auch beim Wettbewerb fundamental, das Thema, den Ort oder die Menschen, mit denen man sich beschäftigt, in den passenden geschichtlichen Zusammenhang einzuordnen. Da die Arbeit aber so sehr ins Detail geht, reicht das Geschichtsbuch oder das Internet nicht mehr aus. Man muss sich selbstständig überlegen, wie man die Antworten auf seine Fragen bekommen oder sich ihnen zumindest annähern kann, und hierzu gibt es einige Schlüssel, die im Geschichtsunterricht aus den oben genannten Gründen gar nicht zum Einsatz kommen können. Beispiele sind die Arbeit mit Dokumenten oder Büchern in Archiven oder das Befragen von Zeitzeugen. Man arbeitet viel selbstständiger als im Geschichtsunterricht – nicht nur im Recherchieren, auch im späteren Verfassen der Arbeit, bei der wissenschaftliche Methoden wie das korrekte Zitieren zum Einsatz kommen, die ebenfalls kein Teil des ordinären Geschichtsunterrichts sind.

Alles in allem ist Geschichte für mich während des Wettbewerbs greifbarer und lebendiger geworden. Ich habe mich über Monate hinweg mit einem Menschen und einem Teil seiner Geschichte beschäftigt – Yvonne Pagniez – und dieses intensive Spurensuchen holt Geschichte auf eine viel persönlichere Ebene, als der Unterricht es in dieser Zeit könnte. Durch den Wettbewerb habe ich gelernt, wie allgegenwärtig Geschichte ist, deswegen laufe ich jetzt zum Beispiel mit offeneren Augen durch Städte als früher und sehe genauer hin. Auf diese Weise nehme ich mehr Einzelgeschichten mit, an denen ich sonst ahnungslos vorbeigelaufen wäre.

Marit, nun werde ich Fragen an Ihre Forschungsarbeit selbst stellen:

Erinnern Sie sich noch an Ihre erste Begegnung mit Yvonne Pagniez (auf Ihrem Rechercheweg) und was Sie dazu brachte, diese Persönlichkeit zu erforschen?

Ich erinnere mich daran, dass meine Tutorin Frau Pfeiffer in unserer Themenfindungsphase im Seminarkurs ein kleines Buch über Yvonne Pagniez mitbrachte. Damals hatte ich mich aber eigentlich schon auf ein anderes Thema festgelegt und habe dem Buch deswegen keine große Beachtung geschenkt. Ich habe es nicht einmal ausgeliehen, um es mir zu Hause näher anzuschauen. Doch dann erwähnte Frau Pfeiffer, dass es sich bei Yvonne Pagniez um eine Französin handle und dass eine Forschungsarbeit über diese Persönlichkeit auch die Arbeit mit französischen Quellen beinhalten würde, wenn es denn überhaupt welche gäbe. Da wurde ich hellhörig. Es reizte mich, dass Yvonne Pagniez trotz der von ihr selbst veröffentlichten Bücher bislang offenbar kaum erforscht ist und dass sie sowohl in Deutschland als auch in Frankreich gewirkt hat, wobei ihr Weg sie offenbar auch nach Schwäbisch Gmünd geführt hat. In den nächsten Tagen ging mir diese Persönlichkeit, die einen Teil der Geschichte von zwei Ländern und meiner Heimatstadt zu verbinden schien, einfach nicht mehr aus dem Kopf. Letztendlich habe ich dann recht schnell beschlossen, meine Pläne komplett umzuwerfen und meine Arbeit über Yvonne Pagniez in Zusammenhang mit der deutsch-französischen Geschichte zu schreiben – diese Entscheidung habe ich nie bereut.

Sie haben die Motive, Vorbereitung und Durchführung einer lebensbedrohlichen Flucht aus der Vernichtungsmaschinerie der NS-Diktatur untersucht. Was hat Sie am meisten beeindruckt?

Mich hat am meisten und von Anfang an die große Willenskraft von Yvonne Pagniez beeindruckt. Dazu zählen vor allem ihr Mut und ihr Durchhaltevermögen. Im Konzentrationslager hat sie sich immer wieder neue Fluchtpläne ausgedacht, obwohl am Anfang einer nach dem anderen scheiterte. Die langen Wintermonate der Flucht, die darauf folgten und von Hunger, Kälte und Einsamkeit geprägt waren, sollte man ebenfalls nicht unterschätzen. Ich bewundere an Yvonne Pagniez, dass sie in diesen Monaten niemals den Glauben an sich selbst aufgegeben hat, wie es viele andere Menschen getan hätten.

Gewannen Sie durch das Zeitzeugeninterview eine historische Erkenntnis, die Sie aus den Büchern von Yvonne Pagniez und aus der Sekundärliteratur allein nicht hätten ableiten können?  

Ich habe zu Yves Pagniez – dem Sohn von Yvonne Pagniez – Kontakt aufgenommen, weil ich noch eine andere Perspektive zu ihrer Geschichte hinzuziehen wollte. Das war wichtig, weil ich in meiner Arbeit einen großen Schwerpunkt auf die Persönlichkeit von Yvonne Pagniez gelegt habe. Mit Sekundärliteratur kommt man da natürlich nicht weiter, wobei es über Yvonne Pagniez als Person auch keine Sekundärliteratur gibt. Mithilfe des schriftlichen Interviews bin ich deswegen nicht zu neuen historischen Schlüsselerkenntnissen gelangt, vielmehr habe ich mir ein genaueres Bild von ihrer Persönlichkeit machen können. Selbstverständlich konnte ich schon vieles aus ihren Büchern ableiten, aber ich hatte noch einige Fragen, die mir Yves Pagniez beantwortet hat. So lernte ich beispielsweise mehr über die Beweggründe von Yvonne Pagniez, warum sie sich nach ihren schrecklichen Erlebnissen in Deutschland trotzdem für die deutsch-französische Aussöhnung einsetzte. Darauf bezieht sich auch Ihre nächste Frage.

Zu einem anderen Thema in Ihrer Arbeit, das ebenso wie der Widerstand ein zentrales Motiv in der Geschichte der Menschheit ist: der Versöhnung als Mittel des Friedens und der Völkerverständigung. Ich weiß, dass meine Großmutter, Jahrgang 1910, noch den damals aktiv gebrauchten Begriff des „Erzfeindes“ für die Franzosen kannte.

In Ihrer Forschung arbeiten Sie heraus, dass Yvonne Pagniez nicht nur als Patriotin und Widerständige beeindruckte in ihrer unbeugsamen Grundhaltung, sondern vor allem auch, weil sie das unmöglich Scheinende in ihrer Person vereinte:
Sie findet, wie Sie schreiben, nach dem Überleben der NS-Diktatur eine „neue Mission“:  Sie engagierte sich für die deutsch-französische Freundschaft. Woher nahm diese Frau diese unglaubliche Seelenkraft, dem Volk die Hand zu reichen, aus dessen Reihen sie unendlich viel Qual erleiden musste?   

Yvonne Pagniez hat durch die Nationalsozialisten mehr Leid erlitten, als wir es uns heute vorstellen können, zudem war sie eine überzeugte Patriotin. Allerdings hatte sie während ihrer Flucht quer durch Deutschland zwei einschneidende Begegnungen mit Deutschen, die ihre Sichtweise auf die deutsch-französischen Beziehungen verändert haben. Das war zum einen die Begegnung mit Schwester Hilde in Berlin, die sie für kurze Zeit bei sich aufnahm, als sie von der Flucht und damit ihr eigenes Leben aufs Spiel setzte. Zum anderen war es die Begegnung mit dem Staatsanwalt Weiss in Konstanz, der sie nach ihrer erneuten Verhaftung bewusst nicht zurück ins Konzentrationslager Ravensbrück schickte. Stattdessen verurteilte er sie zu einer Gefängnisstrafe, was ihr höchstwahrscheinlich das Leben rettete. Diese beiden Erfahrungen, bei denen Deutsche den Umständen des Zweiten Weltkrieges zum Trotz auf einer menschlichen Ebene handelten und dabei ihr Leben für Yvonne Pagniez riskierten, spielten eine Schlüsselrolle bei ihrem Entschluss, zur Aussöhnung beizutragen. Dabei bezweifle ich aber, dass Yvonne Pagniez überhaupt jemals aktiv an eine hasserfüllte Erbfeindschaft zwischen Deutschland und Frankreich geglaubt hat.

Zuletzt noch eine Frage an Sie als Forscherin:

Der Geschichtswettbewerb beschränkt auf die Forschung vor Ort.
Welche Vor- und welche Nachteile sehen Sie in einer Forschung, die sich vorerst auf die Familie oder Stadt begrenzt, in der man lebt?

Ich gebe zu, dass ich innerlich zuerst aufgestöhnt habe, als ich von dieser Beschränkung auf Familie oder Heimatstadt erfuhr. Wenn die eigene Familiengeschichte keine Inspiration bietet, kann man mit der Themensuche beim eigenen Wohnort Glück oder Pech haben, je nachdem wo man lebt. Wenn man auf dem Land wohnt, kann es schwieriger sein, ein Thema zu finden, für das man wirklich Feuer fängt – in einer größeren Stadt mit einem Archiv und vielen Museen, die die Stadtgeschichte dokumentieren ist das einfacher, weil es mehr Auswahlmöglichkeiten gibt.

Allerdings gibt es auch zwei entscheidende Vorteile für dieses Modells der Themenauswahl, die mir erst mit der Zeit und beim Schreiben klargeworden sind: Zum einen will der Geschichtswettbewerb vermitteln, dass Geschichte nicht nur an den bekannten Schauplätzen wie etwa Berlin zu finden ist, sondern wirklich überall Spuren hinterlassen hat. Er regt dazu an, auch in kleineren Städten die Augen zu öffnen – zum Beispiel nach den Geschichten bestimmter Persönlichkeiten, Familienschicksalen, besonderen Gebäuden oder Bräuchen…So entsteht die Vielfalt, die den Wettbewerb so attraktiv und spannend macht.

Zum anderen bedeutet eine Begrenzung der Themen auf das familiäre oder örtliche Umfeld, dass Geschichte auf einer viel persönlicheren Ebene erlebt wird. Meiner Meinung nach hat man zu einem Thema meistens gleich einen engeren Bezug, wenn es wirklich um die eigene Familiengeschichte und somit auch um die eigene Identität oder eben um die Heimatstadt geht, auf deren Straßen es in der Vergangenheit ganz anders zuging als heute. Man beginnt, seine Umgebung in einem neuen Licht zu sehen, wenn man einen Teil ihrer Vergangenheit kennenlernt. Insofern sehe ich in einer Teilnahme am Geschichtswettbewerb auch automatisch einen persönlichen Gewinn.

Im dritten Teil meines Interviews befrage ich Sie zu Ihren Erfahrungen mit dem Wettbewerb selbst:

Sie haben mit Ihrer Forschungsarbeit einen Landespreis und, was für eine grandiose Auszeichnung, Marit, ich fand Ihren Namen auf der Plattform Wikipedia und auf der Homepage der PH Schwäbisch Gmünd.  Präziser ausgedrückt, wurde Ihre Forschungsarbeit fachwissenschaftlich anerkannt. Diesen Impuls setzte das Stadtarchiv in Schwäbisch Gmünd. Auf den Seiten des Stadtarchivs kann man Ihre Arbeit auch herunterladen, um sie in aller Ruhe zu lesen.
Können Sie deshalb an dieser Stelle etwas über Ihre persönliche Erfahrung in der Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv erzählen?

Ich denke sehr gerne an die Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv in Schwäbisch Gmünd zurück. Der Leiter des Archivs, Dr. Schnur, hat uns (meinen Seminarkurs) bei unserem ersten Besuch einen kleinen Einblick in die Aufgaben und Abläufe eines Stadtarchivs gegeben, was für uns alle Neuland war. Diejenigen, die für sich für ihre Recherche auf Materialien aus dem Archiv stützen wollten, stellten Herrn Dr. Schnur im Anschluss ihr Thema in groben Zügen vor. Auch ich habe das getan und in den darauffolgenden Wochen einige Stunden im Archiv verbracht, um dort zu recherchieren. Dabei hat mir Herr Dr. Schnur Bücher und Dokumente herausgesucht, die für meine Arbeit hilfreich sein könnten und stand auch für weitere Inspirationen zur Recherche als Ansprechpartner zur Seite. So habe ich meine Recherche dort sehr genossen und nebenbei mit dem Stadtarchiv einen Ort kennengelernt, den ich bisher noch nicht kannte.

Wie kam es dazu, dass das Stadtarchiv Ihre Arbeit als fachwissenschaftlich neuen Beitrag einschätzte und in seinen Katalog aufnahm?

Als die Wettbewerbsphase vorbei war, habe ich mir überlegt, ob ich meine Arbeit auch für andere Menschen zugänglich machen könnte, die sich für die Geschichte für Yvonne Pagniez interessieren. Für mich war das zu diesem Zeitpunkt allerdings nur ein Gedankenspiel. Offenbar hatte meine Tutorin Frau Pfeiffer aber eine ähnliche Idee gehabt und schlug mir konkret vor, das Stadtarchiv und damit Herrn Dr. Schnur nach einer Möglichkeit zu fragen, um dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen – natürlich nur, wenn meine Arbeit dessen würdig wäre. Herr Dr. Schnur hat meine Arbeit im Anschluss neben einigen anderen Seminararbeiten gelesen und mir angeboten, sie in das digitale Wissenschaftsverzeichnis der PH aufzunehmen. Das hat mich unglaublich gefreut, da ich so ein Angebot - wenn ich ehrlich bin - nicht erwartet hätte.

Können (konnten) Sie die Auszeichnungen in Ihrem weiteren Lebenslauf gewinnbringend einsetzen?

Das ist vielleicht sogar schon passiert, nämlich beim Bewerbungsprozess auf einen internationalen Studiengang, für den ich dann tatsächlich eine Zusage bekommen habe. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob die Auszeichnungen dabei wirklich eine Rolle gespielt haben. Ob ich sie in der Zukunft gewinnbringend einsetzen kann, wird sich zeigen – fürs Erste bleibe ich offen, da ich noch nicht weiß, wohin genau mich mein Weg führen wird.

Am HBG hätten Sie sicher auch noch die Gelegenheit gehabt, im Festsaal der Alten PH vor der Schulgemeinschaft Ihre Arbeit vorzustellen. Wir hätten Sie gefeiert. Leider hat „Corona“ diesen Akt verunmöglicht. Nicht nur ich hoffe, dass Sie dieses Interview auf der Homepage -und später im digitalen Archiv- als Akt der Würdigung einer herausragenden Forschungsarbeit durch die Schulgemeinschaft sehen können: auch in dieser Ausnahmezeit. Marit, Sie haben historische Spuren gelegt und ich wünsche Ihnen im Namen der Schulgemeinschaft von Herzen alles Gute!

Wenn Sie wollen, können Sie hier ein Schlusswort sprechen:

Vielleicht lesen diese Zeilen auch ein paar Schüler, die sich noch überlegen, ob sie beim Geschichtswettbewerb teilnehmen sollen oder nicht und an die ich gerne mein Schlusswort richten würde: Wenn ihr die Kapazität habt, kann ich euch nur dazu ermutigen, diesen Schritt zu gehen und euch auf die Erfahrung des Wettbewerbs einzulassen. Wenn ihr ein Thema wählt, das euch wirklich fasziniert, liegt eine sehr erlebnisreiche und schöne Zeit vor euch, die euch auch persönlich weiterbringen wird – egal, ob ihr dabei einen Preis gewinnt oder nicht!